Schwabinggrad Ballett (2005)

CD/LP, Staubgold

Tracklisting

  1. Under control
  2. Herdentrieb & Hospitalismus
  3. Trashcan
  4. ICE Bertolt Brecht (Ab)
  5. Tryptichon Mitte
  6. Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen
  7. Geliebte Viecher in the night
  8. Quadratmühle
  9. Über den Selbstmord
  10. So sehr der Gedanke auch schmerzt, will es mir doch leider so scheinen, als ob ich auch in einer befreiten Gesellschaft immer zu einer Minderheit gehören würde
  11. 65 Sekunden Hauptbahnhof
  12. Trauma Troopers
  13. Moderne Welt
  14. Zara
  15. Lied der Baumwollpflücker
  16. Arme Banausin, sie will nicht begreifen
  17. ICE Bertolt Brecht (an)

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Linernotes

Das Schwabinggrad Ballett gründete sich 2000 bei einem antirassistischen No-Border-Camp. Man entwickelte flexible Auftrittsstrategien, die Verwirrung stiften sollten, Formen aufbrechen, politisieren. Das Schwabinggrad Ballett (das in seinem Namen die Erinnerung an die größte Niederlage der Nazis und die ersten bohemistischen Straßenmusiker-Krawalle der Republik vereint) ist ein offenes Kollektiv und versteht sich als Teil eines Netzwerks, das unter anderem den Hamburger Buttclub betreibt, der wiederum Diskussionen, Lesungen, Ausstellungen, Konzerte, Lesegruppen und Aktionen organisiert.

http://schwabinggrad-ballett.org

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Christoph Twickel:

Im Sommer 2002 fuhr ich mit dem Schwabinggrad Ballett nach Straßburg zum Grenzcamp [1]. Wir gaben auf Straßburgs Brücken und Plätzen ein Laientheaterstück mit dem Titel „Hellenen Raus!“ (siehe Track 15). Das Camp war ein Zeltlager voller No-Border-Aktivisten, die meisten vegan orientiert und mit „Wursthaaren“ angetan, wie wir ihre Dreadlocks in nicht ganz richtiger, aber auch nicht ganz unrechter Abscheu nannten. Am Abend, nach getaner Demo, gab das Schwabinggrad Ballett im Camp ein Konzert. Empörung schlug den Musikern entgegen, als sie die Nummer „Moderne Welt“ intonierten, ein alter Song der Münchener Band Freiwillige Selbstkontrolle. ‚Wir sagen ‚Ja‘ zur modernen Welt?‘ Oha! Das gefiel den Wursthaaren gar nicht! ‚Buh! Aufhören! ‚Moderne Welt‘ - total daneben!‘ Es war abzusehen, und das mochte ich am Schwabinggrad Ballett. Weil auf Demos spielen, das kann ja jeder. Die Tocos, Die Sterne, Blumfeld… wer weiß, vielleicht eröffnen bald Silbermond die Mai-Demo in Berlin. Aber sich vor die Wursthaare zu stellen und ‚Ja‘ zur modernen Welt zu sagen, besser noch: in berückender Mehrstimmigkeit zu singen?

Also, Musikjournaille, schreib mal ab: „Das Schwabinggrad Ballett ist ein aus einem Hamburger Debattierzirkel namens Buttclub hervorgegangenes mobiles Einsatzkommando von MusikerInnen und NichtmusikerInnen, PolitaktivistInnen und KünstlerInnen. Eine Kapelle für antizyklische Umzüge zur Unterstützung umstürzlerischer Aktivitäten.“ Zum Beispiel: Zur Wiederbelebung der stillgelegten Parade des Hamburger Einzelhandels zogen wir Ende 2002 in Häschen- und Astronauten-Kostümen durch die Einkaufszone und intonierten ‚Geiz ist geil‘ auf der Melodie von ‚Life is Life’. Nach 45 Minuten begann die Polizei, den Teilnehmern der Parade Innenstadtverbote zu erteilen.

‚Poplinke‘ haben das Schwabinggrad Ballett die anderen manchmal geschimpft, weil es Verwirrung stiften wollte, wenn sie ‚unsere Antwort: Widerstand‘ riefen. Von wegen Antwort!

Ich war mir sicher, das Schwabinggrad Ballett widerstrebe dem Bandformat und seinem Kreislauf. Akkordeon, Pauken, Einkaufswagen, Blasinstrumente - auch die Instrumentierung war ja der Idee der ‚marching band‘ geschuldet (siehe Track 12). Statt Leadsängern heisere Chöre, statt Diskurspop sollte dadaistischer Agitprop das Kerngeschäft bilden.

Platten machen, Infos rausgeben, Promotage ansetzen, auf Konzerttour gehen, beim Interview ‚Diese Platte ist unsere bisher politischste‘ sagen? Mir wird schlecht!

Kurz nachdem wir mit Hilfe der Superheldin ‚SuperNOlympica‘ erfolgreich Hamburgs Olympiabewerbung torpediert hatten, trat das Schwabinggrad Ballett in die Phase ‚Zusammen leben, arbeiten, musizieren‘ ein. Nur als temporäre Zone natürlich, nicht wie bei Can oder Ton, Steine, Scherben. Mehr so experimentell, ein paar Wochen Kommune, ein paar Wochen der Koketterie nachgeben, die der Titel von Track 10 so trefflich beschreibt. Free Jazz, Stuhlimprovs, freie Geister, Saisongemüse essen, Drogen nehmen, Pingpong spielen. Der wendländischen Nachbarin gefiel es ebenso wenig wie den Straßburger Wursthaaren (siehe Track 16). Das Schwabinggrad Ballett aber hat es zusammengeschweißt. Jetzt ist es doch so was wie eine Band geworden. Jetzt bringen sie sogar ein Album raus. Schreib auf, Musikscherge:

‚Geile Scheibe. Siebzehn Hammertracks zwischen Katzenmusik und Kollektiv. Siebzehn Rachenputzer zwischen Punk und Penderecki. Siebzehn Mal Adutainment zwischen kritischer Masse und massiver Kritik. Echt schwierig und echt schön.‘

Und in der Schönheit liegt das Scheitern. Bambule [2] ist vorbei, im Buttclub sitzen andere, welche ziehen nach Berlin, welche kriegen Kinder, oder einen neuen Job, wie’s halt so geht. ‚I’m under control of a mighty force / a strange opression talking me down / taking me places’. Ist doch wahr. Heute wäre es doch ganz normal, wenn 1000 vollverschalte Bullenschweine ein Dutzend musizierende Häschen aus der City trieben. Keiner sagte mehr was. Außer dem Schwabinggrad Ballett: ‚Ich seh die Platte ja auch nicht als Ende des politischen Projekts’. Na, das will ich aber sehen! Da warte ich drauf! Schafft ein, zwei, viele Schwabinggrad Balletts! Oder soll das ewig so weitergehen?

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1 – Jährliche Linksradikale Pflichtveranstaltung zur Bekämpfung weltweiter Grenzregime, abgehalten an wechselnden Orten

2 – Bauwagen-Kommune im Hamburger Karoviertel, nach martialischer Räumung im Winter 2002 Anlass für monatelange Proteste

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