Türken, Deutsche, Projektionen

Nachtkritik, 29. Oktober 2010 | Von Jürgen Reuß

Wie können zwei Gruppen, denen die gemeinsame Sprache fehlt, wie dem Theater Freiburg und dem Istanbuler Performing Arts Center garajistanbul, ein gemeinsames Stück inszenieren?

Auf der pragmatischen Ebene, indem man über der Bühne zwei Projektionswände für Übertitelung montiert und die Inszenierung im Wesentlichen als paralleles oder nacheinander Spielen in den jeweiligen Landessprachen Deutsch und Türkisch anlegt. Kommt es doch einmal zum gemeinsamen Spiel, bleibt ein Teil stumm, wird gesungen oder Englisch als Überbrückungs-Vehikel benutzt. „Ich nenne es deshalb Vehikel, weil das kein rasend geeignetes Auto ist, sondern wir können teils nur gebrochen Englisch und treffen uns dann eben von beiden Richtungen kommend in einem behelfsmäßigen Englisch“, beschreibt Bühnenbildner Michael Graessner im Programm-Magazin die Kommunikationsprobleme während der gemeinsamen Arbeit.

Bröselnde Klischees

Seine weiteren Erläuterungen bestätigen auch ein Phänomen, das häufig bei interkulturellen Begegnungen zu beobachten ist. Was vorher diffus als Klischee und Vorurteil herumgeisterte, ist nachher als belegte Differenz verankert: „Ich habe eine selbst gebastelte Theorie: Die Arabeske, dieser Schnörkel, hat auch Einfluss auf Sprache und Denkprozesse. Der deutsche Gedanke ist ein sehr linearer, knapper Gedanke. Im türkischen Team wird unglaublich viel schlawinert, geredet, obwohl Dinge in unseren Augen schon längst besiegelt waren. Es ist ein blödes Klischee, aber dieses Verhandeln ist eine Kunst.“

Wenn man diesem Klischee folgen mag, sind die Deutschen natürlich über den Tisch gezogen worden, denn die ganze Bühne ähnelt einem türkischen Basar, „Türk-Alman tiyatro pazari“ ist ja auch der Untertitel vom Ergebnis der Kooperation „Cabinet“. Wie immer bei Klischees bröseln sie jedoch, wenn man genauer hinschaut. So kann man die 24 nach berühmten Türken und Deutschen eingerichteten Zelte, die in Zweierreihen um die Bühnenmitte stehen, als Basar auffassen, und die Zuschauer sollen im ersten Teil auch zwischen ihnen hindurch schlendern und sich von den jeweiligen Angeboten hineinziehen lassen. Aber wenn man vor dem Zelt von Kriegstreiber Joseph Goebbels steht, kann das Ganze auch die Anmutung eines Feldlagers bekommen.

Wechselseitige Spuren- und Identitätssuche

Übrigens ein sehr gelungenes Zelt. Von innen ist es komplett mit schwarzen, roten und weißen Luftballons ausgekleidet, frontal erschallt Goebbels‘ Stimme in der mit vier Besuchern rappelvollen Umhüllung, die durch den Auftrieb der Ballone fast schon psychedelisch schwankt, und, assistiert vom durch die statische Aufladung bedingten gelegentlichen, unvorhersehbaren Platzen der Ballone, durchaus eine Atmosphäre diffusen Terrors erzeugen kann, wobei Jahrmarkt als Assoziation auch nicht falsch wäre.
Die Zelte sind Ausdruck der wechselseitigen Spurensuche. Die Deutschen haben sich typische Türken ausgesucht, die Türken typische Deutsche. Das zugehörige Programmheft, in Form eines Autogrammkartensets gestaltet, bildet daraus interessante Paare (auch wenn sie nicht unbedingt als solche gedacht sind): etwa Bülent Ersoy, „eine der bedeutendsten Stimmen der türkischen Kunstmusik“ und „Gallionsfigur vieler Homo- und Transsexuellen in der Türkei“ und Marlene Dietrich, mit „berühmter androgyner Ausstrahlung“, „als Vaterlandsverräterin beschimpft“, und die, wie Ersoy heute, ihre letzten Lebensjahre im Auslandsexil lebte.

Erlöser vom Deutschtum: Christoph Schlingensief

Oder die zwei gefallenen Sportler Jan Ullrich und der türkische Fußballstar Tanju Çolak, in dessen Zelt Kinder nach ihrer Entscheidung gefragt werden, für welche Nationalmannschaft sie einmal spielen möchten. Diese Pärchenbildung ist für die Einordnung der jeweils fremden Ikone hilfreich, auch wenn sie offiziell geäußert zu Recht diplomatische Zwischenfälle produzieren würden, z.B. bei den Pärchen Goebbels und Türkentumler Mehmet Ziya Gökalp oder Gudrun Ensslin und Volksbefreiungsarmeegründer Deniz Gezmiş.

Das nach der Pause einsetzende Nacheinander des von Türken inszenierten Deutschtums und des von Deutschen bearbeiteten Türkentums verkehrt die Bühnenbildner-Theorie von der Verteilung des Linearen und Arabesken ins Gegenteil. Das Deutschenbild der Türken ist ausgesprochen straight, so linear wie eine Autobahn. Mit Hilfe unzähliger selbst gestalteter Verkehrsschilder brettern sie mit den Nazis bis Russland, übertragen mit Jan Ullrich als Verlängerung des unbeirrten Weiterbretterns den deutschen Effizienzwahn auf den Sport und schlängeln sich als Türken auf den Highways zwischen Istanbul und Berlin zwischen Verlockung und Unverständnis durch.

Am Ende bleibt vom Deutschtum ein Scheiterhaufen der Verbotsschilder und ein Erlöser, Christoph Schlingensief, der vom Himmel aus die europäischen Sterne an die Kolonien zurückgibt. Ein schönes Requiem auf einen offenbar interkulturell geschätzten Künstler.

Konsistente Türken, verunsicherte Deutsche

Die deutsche Schauspielgruppe verliert sich im Gegensatz zu den Türken im arabesken Fragespiel. Da hat sich nichts zu einem vorführbaren Türkenbild verfestigt. Oder ist es die Angst vor den eigenen Klischees? Vielleicht wollten sie auch nur ein Gegenbild zum Autobahndeutschen erzeugen: Deutsche die Fragen nach dem Anderen wie das weinerliche Suchen nach einer verlorenen eigenen Identität vortragen.

Man könnte versucht sein, sich da wieder ein Klischee aufdrücken zu lassen. Dort die Türken mit einem konsistenten Selbstbild, das ihnen erlaubt ein, selbst wenn es nur zum Spiel wäre, konsistentes Fremdbild zu erzeugen. Hier die verunsicherten, identitätssuchenden Wohlstandsdeutschen, die sich auf Türkisches einfach nicht einlassen könne, ohne von eigenen Mangelgefühlen überwältigt zu werden. Aber das ist vielleicht auch nur die Pose von jemandem, der das Andere einfach nicht weit genug an sich heranlassen mag, um es wenigstens spielerisch einmal anzunehmen. Westliche Ignoranz kann auch ein angenehm freundliches, ja schüchternes Antlitz haben. Diese bissigen Sätze gelten aber nur dem Bühneergebnis.

Die Begegnung der Künstler und die Begegnungen im ebenso gemischt kulturellen Publikum lassen spüren, dass da mehr und Konstruktiveres entstanden ist, als man sich wohl von deutscher Seite für die Bühneninszenierung zugetraut hat.

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