Bericht zur Freiburger Bettleroper
suedkurier.de, 26.01.2009| Von Siegbert Kopp
Der bärtige Falko im Trenchcoat hat früher gebettelt. Er hat sich dafür ganz tolle Geschichten ausgedacht. Die sind aber bei den Passanten nicht richtig rübergekommen. Jetzt versucht er sich als Straßenmusiker auf der Melodika. Dietrun, alleinerziehende Mutter, Hartz-IV-Empfängerin, hat Mitte des Monats kein Geld mehr – aber Betteln ist bei ihr nicht drin, es könnte sich in der Schule herumsprechen. Uli hingegen hat als Bettler schon reiche Erfahrung gesammelt. Sein Tipp: Der Standplatz ist wichtig. Ein fester Standort muss sein. Märkte sind immer gut. Von wegen Stammpublikum. Laufkundschaft bringt nichts. Man muss freundlich sein, darf auch ein bißchen flirten, aber nicht zu viel lachen, das weiß Jeanette. Und die toughe Powerfrau Christine-Sofie kennt sich aus mit Notschlafstellen, Essen-Treffs und Kleiderausgabestellen und den notwendigen Bezugsscheinen.
Fachwissen aus erster Hand im Schauspielhaus des Freiburger Theaters: Auftritt für „echte“ Hartz-IV-Empfänger, für Wohnsitzlose, Bauwagenbesitzer, Bettler und Flaschensammler. Sie alle haben sich zum „Bettlerchor“ gefunden unter der Regie von Christoph Frick und der musikalischen Anleitung von Bernadette de La Hengst. „Bettleroper“ heißt zwar der knapp zweistündige Theaterabend, aber John Gay oder Brecht/Weill kommen hier nicht vor.
Ursprünglich wollten Intendantin Barbara Mundel und Regisseur Christoph Frick die „Dreigroschenoper“ von Brecht/Weill als Vorlage für eine Neuinszenierung zum Thema „Neue Armut“ nehmen, die Brecht/Weill-Erben lassen aber eine Änderung an dem Werk grundsätzlich nicht zu, worauf man die Urfassung von John Gay anvisierte, bis man auch die fallen ließ. Herausgekommen ist ein „Schauspiel mit Musik“, ein Projekt für sechs professionelle Schauspieler und elf Spezialisten in Sachen Leben in Armut.
Ein junger Mann im schwarzen T-Shirt mit „Freiebürger“-Aufdruck weist uns den Sitzplatz an. „Freiebürger“: So nennt sich bitter-ironisch die Freiburger Straßenzeitung. Ein bärtiger Mann im Trenchcoat ermahnt uns, kein Popcorn zu futtern – wir sind hier ja nicht im Kino. Auf der Bühne rüsten Frauen Gemüse, ein Suppentopf simmert vor sich hin –Volksküche, Wärmestube, Aufenthaltsraum und letztes Abendmahl zugleich. Und über allem schwebt eine große Wattewolke (Bühne: Clarissa Herbst).
Am Bühnenrand sitzt eine junge Frau mit Pappschild: „Ich sag nix mehr.“ Aber dann ergreifen sie alle das Wort. Formation zur Chorusline: „Und wer hat das Geld versteckt? Eben hier und schon ist es weg“, ertönt es aus vollen Kehlen. Songtexte und Musik stammen – exklusiv fürs Theater Freiburg – von Bernadette La Hengst, Gründerin der Frauen-Rockband „Die Braut haut aufs Auge“.
Und dann gehts Runde um Runde: Bernadette La Hengst greift selber in die Gitarrensaiten, ein megacooler Schlagzeuger bedient gleichmütig Snare und Becken, derweil sein Kollege auf der Mülltonne seinen rhythmischen Beitrag leistet. Ein Hofkonzert im Hinterhaus der krisengeschüttelten Wohlstandsgesellschaft. Zum Expertenwissen der Betroffenen gesellen sich bissig-satirische Songs über „Mitleid“ und den „Flaschensammler“, über „Grundeinkommen Liebe“ und auch über „Avantgarde Bettler“ und das „Armutsrisiko“ einer abstiegsbedrohten Gesellschaft. Glaube, Liebe, Hoffnung: Die Krise – ein Dreiklang in Moll? Eher eine schrille Dissonanz. Jeder Vierte ist laut Statistik ein Habenichts. Die Unterschiede bei der Vermögensverteilung werden immer größer.
Verhandelt in dieser locker gefügten Szenenfolge werden Schlüsseltexte zur Wirtschaftskrise: Offizielle Politikerverlautbarungen treffen auf das reale Elend und menschenfremde Formulare auf Unverständnis. Es ist zum Ausrasten – und genau das tun sie auch auf der Bühne. Es ist zum Schreien – auch das passiert. Das Beste: Die Verarmten werden nicht missbraucht, um das eigene Elend nachzuspielen; sie werden nicht künstlerisch ausgenutzt zum Zwecke verstärkter Authentizität.
Sondern es läuft umgekehrt: Die sechs Schauspieler haben sich ins Elend hineinbegeben, haben recherchiert, und herausgekommen sind sie mit der Angst, die viele im Publikum haben: Wann trifft es mich? Ein junger Schauspieler sagt, er müsse mit 1500 Euro netto auskommen: Was können andere sich noch leisten? Auf wieviel muss ich verzichten? Geht es noch weiter hinab? Die Suppe müssen am Ende alle gemeinsam auslöffeln. Aus der Suppenküche gabs am Schluss Chili con Carne für Ensemble und Publikum, für alte Reiche und neue Arme. Wie haben sie gesungen? „Wir sind Börsen-Bettler, Investoren-Bettler, wir sind pleite Bettler und verloren Bettler“. Großer Applaus.