Schon mal Hartz IV gehabt?

Bericht zur Freiburger Bettleroper

Badische Zeitung, 26.01.2009 | Von Bettina Schulte

Dies ist kein Stück über, sondern mit und von. Kein Stück über Arbeitslose, Penner und Hartz-IV-Empfänger, keine Sozialstudie über Elend und Armut im vom Schatten der Finanzkrise verdunkelten Gegenwartsdeutschland im zwanzigsten Jahr des Mauerfalls. Hier ist der Genitivus Subjectivus am Platz. In dieser „Bettleroper“ singt und spielt der Bettler selbst. Mitleid verbietet sich da. So wie es in dem höhnisch-sarkastischen Lied mit eben diesem Titel heißt: „Mitleid ist Religion, / und der Armen Lohn, / doch davon wird niemand reich.“

Geschrieben und komponiert hat es die Berliner Indierockmusikerin Bernadette La Hengst für Christoph Strucks Inszenierung der „Bettleroper“, die am Wochenende im Kleinen Haus des Freiburger Theaters Premiere hatte. Geschrieben für die elf Freiburger Arbeits- und Obdachlosen, Bauwagenbesitzer und Hartz-IV-Empfänger, die den vielstimmigen Chor des nach dem Vorbild von John Gays „Beggar’s Opera“ 1728 entstandenen Schauspiels bilden – ein Kollektiv, in dem die individuellen Lebensgeschichten der Beteiligten keine Rolle spielen. Sie können keine spielen, denn auch Gay ging es in seiner Satire auf das englische Großbürgertum nicht um subjektive Befindlichkeiten, sondern um gesellschaftliche Gegebenheiten – so wie 200 Jahre später Brecht/Weills „Dreigroschenoper“.

An diese Tradition knüpft Frick/La Hengsts „Bettleroper“ an und überträgt sie auf die deutschen Umstände im Jahr 2009. Es sind, nicht zuletzt, bürokratische Umstände: Wenn die Schauspielerin Bettina Grahs aus dem Publikum heraus mit sich steigernder Panik den – bescheiden formuliert: umfänglichen – Antrags-Fragebogen für das so genannte ALG II (besser bekannnt als Hartz IV) verliest, kann einem schwindlig werden. Das sind die amtlichen Dokumente der Armut, die auf diese Weise fein säuberlich in einen anonymen Aktenvorgang transformiert wird. Genau festgelegt ist, was einem Hartz-IV-Empfänger an Waren, Bekleidung, Wohnung und Hygiene zusteht. Im Vortrag der sechs Schauspieler, die sich mit den Armutsexperten gemeinsam auf den Weg zur Erkundung einer von mate- riellen Segnungen ausgeschlossenen Existenz gemacht haben, verwandeln sich diese Listen in einen ironischen Kommentar zum Armutsbericht der Bundesregierung – und in einen sarkastischen zu den Leitsätzen der CDU über Wachstum und Wohlstand in Deutschland, die noch nie so hohl getönt haben wie an diesem Abend.

Ist das ein Sujet fürs Theater? Kann man mit Politikerphrasen, Expertengeschwurbel und Amtsdeutsch eine Aufführung bestreiten, die doch bitteschön mehr sein soll als Kirchentag oder Kabarett? Und kann man Betroffene auf die Bühne stellen, ohne sie dem Voyeurismus anheim zugeben? Man kann, wenn der Abend so leicht, so spielerisch, so witzig und so nüchtern „unbetroffen“ daherkommt wie dieser.

Dafür ist allerdings eine Voraussetzung vonnöten: Wenn sich das Theater so weit in die soziale Realität hineinbegibt wie hier, müssen auch die Schauspieler ihr bloßes Rollenspiel hinter sich lassen – was geschieht, wenn Nicola Fritzen verrät, was er verdient und Bettina Grahs ihre Personalien beim Hartz-IV-Fragebogen angibt, wenn die vor Temperament sprühende „Bettlerin“ Christine-Sophie Arnold lautstark Anna Böger mit deren monatlichen Ausgaben konfrontiert – und wenn alle Schauspieler zusammen laut darüber nachdenken, auf was sie verzichten würden, wenn sie müssten (aber noch müssen sie ja nicht).

Wobei man natürlich nie weiß, ob das alles stimmt: Die Inszenierung definiert als Inszenierung einen fiktionalen Rahmen. Sie bleibt bei aller Authentizität ein ästhetisches Spiel. Wenn Nicola Fritzen nackt nach draußen rennt und es sich unter einer Rosshaardecke gemeinsam mit Melanie Lüninghöner auf einer Isomatte bequem macht, ist das (lustige? frivole?) Simulation von Obdachlosigkeit. An diesen Stellen lauern die Gefahren der Inszenierung, der es indes immer wieder gelingt, Annäherung und Distanz, Empathie und ästhetische Form in schöner, glücklicher Balance zu halten. Das gelingt besonders dann, wenn die Schauspieler die Experten nach ihrem Wissen fragen: Wie man in Freiburg was wo bekommt, wenn man kein Geld hat. Wie und wo man am besten bettelt und welche Sprüche man als Bettler auf jeden Fall vermeiden sollte („brauche Geld, mein Hubschrauber hat kein Benzin mehr“).

Dass es gelingt, liegt nicht zuletzt auch an den Songs. Bernadette La Hengst führt geradezu aufopferungs-, aber durchaus lustvoll vor, wie minimale sagen wir Hartz-IV- Rockmusik klingt: außer ihrer E-Gitarre gibt es noch ein Schlagzeug, das aus eine einziger Trommel und einem Becken besteht; die Percussion wird zuweilen durch rhythmisches Müllcontainertrommeln verstärkt. In ihren Texten hat die Musikerin auch offizielle Berliner Verlautbarungen collagiert („Die Reformbilanz der Bundesregierung kann sich sehen lassen“). Sie hat die Furcht vor dem „Abstieg“ wie die „Angst als Antrieb“ vertont, erweist dem „Flaschensammler“ die Reverenz, fordert ein „bedingungsloses Grundeinkommen Liebe“ und fragt: „Wer hat das Geld versteckt?“

Ja, das möchten wir alle jetzt gern wissen. Und wer kann ahnen, wie ihn die längst nicht ausgestandene Finanzkrise noch beuteln wird? Da kann es nicht schaden, sich schon mal auf schlechtere Zeiten vorzubereiten. Ärmer leben: Die Freiburger „Bettleroper“ zeigt, wie das gehen kann.

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