Spex | Kunstsprache Teil 8: Bernadette La Hengst

Spex #313, Februar 2008 | Text: Max Dax, Corinna Koch

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Sie war dabei, beim Urknall der sogenannten Hamburger Schule, damals in Bad Salzuflen, als die jungen Frank Spilker, Bernd Begemann und Jochen Distelmeyer sich dazu entschlossen, fortan in ihrer Muttersprache zu texten. Das war kurz vor dem Mauerfall, anschließend trafen sich alle in Hamburg wieder, und Bernadette La Hengst gründete endlich ihre eigene Band Die Braut haut ins Auge – und wurde mit ihrem energischen, deutschsprachigen Beatpop zu einer Identifikationsfigur nicht nur für Feministinnen.

Seit 2002 verfolgt sie eine Solokarriere, ihr drittes Album »Machinette« erscheint am 25. April. Auf diesem finden sich dreizehn neue Songs, darunter das bemerkenswerte Lied »Der grüne Halsbandsittich«, auf welchem La Hengst die eigene Kunstsprache auf eine neue postbiografische Ebene hebt.

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Ein Lied geht mir meist schon lange im Kopf umher, bevor ich die erste Zeile schreibe. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema des zu schreibenden Songs ist sehr wichtig. Diese Auseinandersetzung kann in Einzelfällen ein paar Jahre dauern. Über Monate besteht ein unfertiger Song dann aus Stichworten und vielleicht einem angefangenen Refrain. Ich weiß mittlerweile aber, dass selbst ein Song, der mir Probleme bereitet, einmal beendet sein wird. Ich habe keine Angst mehr vor dem unfertigen Song, weil ich weiß, dass ich über den Text siegen werde.

Ein Text darf aber niemals abhängig von der Sängerin oder dem Sänger gesehen werden – er steht immer für sich. Deshalb konnte ich mit 15, 16 Jahren auch Straßenmusik machen und Coverversionen von Ton Steine Scherben und viel Rio Reiser spielen. Ich bin deutsche Studentenstädte abgefahren, aber auch Zürich, Basel, Lausanne, Genf, Frankreich und die Atlantikküste. Damals habe ich meine Stimme ausprobiert. Bewusst zu texten begann ich erst später, als ich in Bad Salzuflen auf die Jungs von Fast Weltweit traf – Bernd Begemann, Frank Spilker, Jochen Distelmeyer, Michael Girke –, die ganz selbstverständlich ihre eigenen Texte schrieben. Für sie war es gar keine Frage, eigene Songs zu singen. Das war für mich eine Initialzündung. Ich war in Bad Salzuflen und sagte mir: Was die können, kann ich auch.

Vielleicht ein Wort zu dem Label Fast Weltweit: Angefangen hatte alles mit Bernd Begemann, Michael Girke und Frank Werner. Diese drei sind fünf Jahre älter als alle anderen, also auch als Frank Spilker und Jochen Distelmeyer. Sie kamen eher aus der Punkrock- und New-Wave-Szene, die Neue Deutsche Welle war vorbei. Sie realisierten: Dieses Zeitfenster hatten sie verpasst. An Marius Müller-Westernhagen oder Udo Lindenberg wollten sie sich aber auch nicht orientieren. Sie wollten in einer eigenen Sprache Lieder schreiben. Der Stil, der in Bad Salzuflen entstand, und der somit prägend werden sollte für Bands wie Die Antwort, Blumfeld, Der Fremde, Die Sterne und letztlich auch mich, definierte sich durch Ausschlusskriterien: nicht NDW, nicht Deutschpunk, nicht Deutschrock, nicht Funpunk. Anders gesagt: Was bleibt übrig, wenn man gerne Elvis Costello, The Jam oder The Smiths hört und die eigene Lebenswirklichkeit in deutschen Kleinstädten stattfindet?

Zeitgleich gab es Die Goldenen Zitronen in Hamburg, die Einstürzenden Neubauten in Berlin oder die Kolossale Jugend aus Pinneberg, die sich ebenfalls an der Möglichkeit einer Post-NDW-Sprache abarbeiteten. Ende der Achtziger zogen dann alle nach Hamburg, und die Karten wurden neu gemischt. In Hamburg entstand mit der Gründung etlicher Bands das, was dann später von außen als ›Hamburger Schule‹ bezeichnet werden sollte.

Das ist Geschichte. Wie erging es dir in diesen Wirren?

Nach all den demütigenden Erfahrungen, die ich als junge Frau bei den Aufnahmeprüfungen zur Schauspielschule gesammelt hatte – die Fremdbestimmung durch Regisseure und Schauspiellehrer, die dich auf dein Talent prüfen, auf deine Ausdrucks- und Willenskraft –, war die in Bad Salzuflen gefällte Entscheidung, es fortan mit eigenen Texten zu versuchen, wie eine Art Selbstermächtigung: Ich schreibe mein eigenes Leben auf, und ich lasse es mir von niemandem diktieren. Viel mehr noch: Ich kann mich und mein Leben durch meine Lieder selber inszenieren. So habe ich 1986 angefangen, meine eigenen Texte zu schreiben.

Allerdings hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch keine Band, keinen Spiegel, keinen richtigen Filter. Ich schrieb Lieder, aber ich ging mit ihnen nicht auf Tour, bekam keine Resonanz. Ein paar dieser Lieder erschienen auf Kassettensamplern von Fast Weltweit. In Hamburg wurde es dann ernst, ich gründete 1990 meine erste richtige Band, Die Braut haut ins Auge.

Der Bandname war selbst schon fast so etwas wie ein Songtext, in all seiner Knappheit. Das Mädchen und die Wut. Ausbrechen, gleichzeitig eine Art von romantischer Geschichtsschreibung. Denn darum geht es doch: Eine eigene Geschichte zu erzählen. Meine ersten Songs handelten alle irgendwie von mir. Ich empfand das Schreiben dennoch als Wagnis, auch, weil unmittelbare Vorbilder fehlten. Es gab zwar Anfang der Neunziger in Hamburg viele Bands um uns herum, doch da war dieser Zwang zur diskursiven Haltung. Ich wollte und musste mich davon abgrenzen – und von den Männern, welche die Rockmusik dominierten. Es gab in Hamburg einfach so gut wie keine Songschreiberin. Mir fällt jetzt nur Katrin Achinger von den Kastrierten Philosophen ein – und sie textete auf Englisch.

Wie hast du aus dieser Ausgangsposition heraus zu deiner eigenen Sprache gefunden?

Mir war bewusst, dass ich so etwas wie eine eigene Sprache finden musste, um mich nicht an den Maßstäben anderer abzurackern. Ich fand ein Vorbild in Hildegard Knef und ihren Schlagern, die, wenn sie gut waren, exzellent erzählte Geschichten waren. Ich empfand ihre besseren Chansons immer als eine Art deutschsprachiger Countrymusik. Es ist übrigens bemerkenswert, dass sie alle ihre Texte selber geschrieben hat. Sie textete sehr autobiografisch, hatte aber stets einen distanziert-selbstironischen Bezug zur Welt. Das hat mir imponiert.

Daliah Lavis Lieder mochte ich auch, sie hat, anders als Knef, nicht selbst getextet, sie hatte eine Texterin namens Marion Francis. Interessanterweise sind ihre meisten Texte Übersetzungen von Carole King, die ja in den Sechzigern auch Auftragsschreiberin von Girl Groups war, bevor sie ihre Lieder selbst sang und damit ein wichtiger Teil der weiblichen amerikanischen Songschreiberszene der Siebziger wurde. Darüber war ich überhaupt auf sie aufmerksam geworden, denn ich hörte in der Zeit viele Girl Groups.

Was war schwieriger zu finden? Deine Position als Sängerin oder die eigene Sprache?

Die Frage war in beiden Fällen die gleiche: Wie kann ich zu holprigem Pop-Punk oder zu Beatmusik singen, ohne dass es peinlich ist? Und ohne dass es gleich zu Deutschpunk wird? Ich bin schließlich keine Kunstfigur, ich kann mich nicht von mir trennen. Das heißt, ich kann mich nicht trennen von mir als einziger Songschreiberin Anfang der Neunziger weit und breit in Hamburg. Eine solche Erkenntnis führt natürlich zu feministischen Positionen. Ein Song wie »Wenn du gehst« von Die Braut haut ins Auge war der Versuch, einen Song wie »I Want You« von Elvis Costello aus weiblicher Perspektive in deutscher Sprache zu denken – ein berührendes Liebeslied also, aus Liebeskummer heraus geschrieben. Ich wusste aber noch im Entstehungsprozess, dass ich, anders als Elvis, nicht vor meinem Lover auf dem Boden kriechen konnte.

Während er sich das vielleicht erlauben konnte, es bei ihm möglicherweise sogar eine Darstellung von Stärke war, konnte und wollte ich es nicht. Hätte ich es getan, hätte ich meinen feministischen Hintergrund verraten. Die Aussage meines Liedes lautete, anders als bei Elvis: Ich werde NICHT auf die Knie gehen, egal, ob du mich noch liebst.

Limitierst du dich, wenn du schreibst?

Auch wenn es immer Popsongs bleiben: Meine Haltung, also gewissermaßen etwas Größeres als der Song, beeinflusst mein Songwriting ganz bewusst. Und natürlich ist klar, dass ich auf Deutsch texte. Geprägt von den Schlagern, die ich bei uns zu Hause in meiner Kindheit gehört habe, über Ideal, Peter Hein und Rio Reiser. Überhaupt Rio: Kein Texter dachte wie er eine Hippievision, ernsthafte politische Anliegen, Parolen und zarteste Liebeslieder zusammen.

Seit du 2002 deine erste Soloplatte veröffentlicht hast, trittst du als Songschreiberin in den Vordergrund.

Ich empfinde mich eher als Medium von Ideen. Früher war es oft so, dass ich überlegt habe: Worüber schreibe ich denn jetzt bloß meinen nächsten Song? Das Lied »Bar Europa« beispielsweise von meinem ersten Album »Der beste Augenblick in meinem Leben« hat sich fast von selbst geschrieben. Das ist ein politisches Lied, in welchem ich es mir selbst zur Vorgabe gemacht hatte, ein Lied über Europa zu schreiben. In ihm gehen die Euphorie über ein neues Europa, die Internationalität und die Reisefreiheit zusammen mit einer Hinterfragung der Euphorie. Denn die Reisefreiheit gilt ja nur für Privilegierte – die Migrationspolitik setzt den Nichtprivilegierten neue Grenzen.

Ich hielt mich im Jahr 2000 für fünf Monate in Lissabon auf, ich singe in dem Lied: »Dies ist nicht der Mittelpunkt der Welt / In der Bar Europa«. Damit meine ich mich selber, aber damit meine ich auch Europa, Deutschland, Hamburg, St. Pauli. Die Bar Europa gibt es in Lissabon übrigens wirklich: Es handelt sich um eine schöne, gemütliche Bar, in der man sich wie im Mittelpunkt oder aber am Ende der Welt fühlen kann.

In »Bar Europa« verknüpfst du deine eigene Biografie, deine Familiengeschichte, Europa und Auschwitz zu einem Koordinatensystem, du singst: »Ich bin auch so einer von drüben, meine Mutter kam aus Pommerland / Und mein Vater stand bei den Zügen und sortierte mit eigener Hand.«

Tatsächlich habe ich hier Autobiografisches thematisiert. Meine Mutter kam aus Schlesien und ist eine ›Vertriebene‹. Ein entfernter Verwandter, mittlerweile verstorben, hat tatsächlich an der Rampe, an den Zügen gestanden und war an der sogenannten Auslese beteiligt. Die Nachricht war für mich ein ungeheuerlicher Schock. Weil mir schlagartig und nicht nur abstrakt klar wurde, dass zum ›Deutschsein‹ dazugehört, sich mit solch unangenehmen Wahrheiten auseinandersetzen müssen. Und es gehört auch zum ›Europasein‹ dazu. Solche Überlegungen durchdringen dieses Lied. Die Euphorie und die Begeisterung für Europa – und die Ernüchterung. Ich bin der Meinung, dass man in einem Lied Widersprüche zu- und stehenlassen kann.

Zumal in der Bar Europa: die übrigens im Hafenviertel von Lissabon liegt, in dem sich ganz viele Bars mit alten Leuchtreklamen befinden. Sie alle tragen Namen der Herkunftsländer und -städte der Seeleute, die für ein paar Tage in Lissabon Halt machen. Es gibt die Bar Oslo, die Hamburg Bar, die Paris Bar, das Arizona, eine Tokyo Discoteca, eine Texas Bar oder das Scandinavia.

Auf deinem neuen Album »Machinette« findet sich der bemerkenswerte Song »Der grüne Halsbandsittich« – ein komplexes, mehrstimmiges Cut-Up aus Zitaten und verstellten Stimmen mit tagespolitischem Einschlag.

Das Lied ist eine Kollaboration mit dem holländischen Architekten und Künstler Ton Matton. Er beschäftigt sich in seiner Kunst mit dem Klimawandel und pflanzt zum Beispiel in europäischen Großstädten Bananenbäume, um zu zeigen, wie weit der Klimawandel schon fortgeschritten ist. Bei einem Gespräch in Rotterdam erzählte er mir von zwei Vögeln – einem Klimawandelverlierer und einem -gewinner. Der Trauerfliegenschnäpper, der Name sagt es schon, ist ein Verlierer der Erhitzung unseres Planeten: Er fliegt im Winter nach Süden, und wenn er zurückkommt, ist, anders als früher, alles schon weggefressen worden von den anderen Vögeln. Er kommt zu spät zurück, seine biologische Uhr tickt noch nach der Zeit vor dem Klimawandel. Wenn er nicht aufpasst, wird er aussterben.

Der grüne Halsbandsittich hingegen ist ein Gewinner der entfesselten Natur. Eigentlich ein Käfigvogel, kann er heutzutage auch in der freien Natur überleben, einfach, weil sich die Atmosphäre so aufgeheizt hat. Die Idee, über das Schicksal dieser beiden Vogelarten ein Lied zu schreiben, indem ich den Gewinner dem Verlierer gegenüberstelle, hat mich seit diesem Gespräch nicht mehr losgelassen.

Wie schreibt man einen Song aus der Vogelperspektive?

Ich ging ganz methodisch vor. Mir war recht schnell klar, dass ich mich in die Vögel hineinversetzen musste – ich wollte aus der Perspektive der beiden Vögel singen, damit ihre Eigenschaften vermenschlicht werden und eine emotionale Spannung entsteht. Und aus der Gegenüberstellung von Gewinner und Verlierer kam ich recht bald auf die Idee, diesen beiden Lebensberichten die Refrainzeilen aus »The Winner Takes It All« von ABBA gegenüberzustellen. Um aus den Perspektiven des Trauerfliegenschnäppers und des grünen Halsbandsittichs glaubwürdig singen zu können, befasste ich mich u.a. mit dem weltweiten, subventionierten Emissionenhandel. Ich dachte einfach: Wie kann ich diesen Text politisch aufladen, wen kann ich anklagen – das Thema bietet sich geradezu an.

So kommt es dann dazu, dass ich mit hochgepitchter Stimme als grüner Halsbandsittich singe: »Ihr verdient doch euer Geld auch mit Emissionenhandel / Warum soll ich nicht Gewinner sein von eurem Klimawandel?«. Mir hätte es also nicht gereicht, nur die Geschichte der beiden Vögel zu erzählen, das Lied sollte auch einen Bezug zu den Menschen herstellen, die den Klimawandel verantworten.

Muss ein Lied nach Verantwortlichen fragen?

Ich muss das. Für mich müssen Lieder immer wieder auch falsche politische Signale thematisieren können – sei es ein Thema wie Klimawandel, oder die Tatsache, dass Menschen durch die Migrationspolitik nach ihrer wirtschaftlichen Nützlichkeit selektiert werden. Ich lebe als Texterin vom Sprachtreibgut und von den Inhalten, die von den Nachrichten angespült werden.

Hast du ein konkretes Beispiel?

Als in Hamburg die Schillpartei als Koalitionspartner an der Regierung war, entstand der Song »Die da oben machen ja doch was wir wollen«. Der Titel ist durch das »Wir« mehrdeutig, sowohl Ausdruck von Ohnmacht als auch kämpferischer Appell, gerade weil sich der Refrain auf einen eher einfachen agitatorischen Slogan von Ton Steine Scherben bezog: »Und wir argumentieren, und wir analysieren / Doch wir werden verlieren, wenn wir uns nicht … / organisieren, mobilisieren, analysieren, formulieren …«. Der Refrain wurde in Hamburg in der Folge oft auf Demonstrationen gesungen … Als ich das zum ersten Mal mitbekam, dachte ich: Ist doch manchmal ganz schön, wie sich Texte verselbstständigen und in die Welt weitergetragen werden …

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