Glück kennt keine Angst

Nur mit Georg Lukács zu begreifen: Auf „La Beat“ singt Bernadette La Hengst besten deutschsprachigen Pop

Junge Welt, 28. September 2005 | Von Reinhard Jellen

Hin und wieder nehmen sich ein paar Außerirdische die Zeit, um die zurückgebliebene Menschheit via Genexperimenten mit außergewöhnlichem Nachwuchs zu beglücken. Dies wurde von John Carpenter mit dem Dokumentarfilm „Dorf der Verdammten“ 1995 wissenschaftlich bewiesen. In einem amerikanischen Küstenstädtchen werden die telepathisch zwar hochbegabten, aber insgesamt eher unleidlichen Sprößlinge von einem recht agilen Christopher Reeves zur Räson gebracht. In Europa konzentriert sich die extraterrestrische Forschung auf das tiefste Westfalen, genaugenommen auf das unauffällige Kurörtchen Bad Salzuflen nahe Bielefeld. Dort wurde zur Freude des Publikums offensichtlich mit musikalischer Begabung experimentiert.

Bad Salzuflen hat die deutsche Popmusik einiges zu verdanken, z. B. ihre Existenz. Ohne Bad Salzuflen gäbe es keinen Honoré de Balzac des deutschen Pop (Bernd Begemann) und keinen „Universal Tellerwäscher“ (Die Sterne). Vor allem aber hätten die Deutschen keine Soulsängerin, die sie auch prompt gar nicht verdient haben: Bernadette Hengst. („Soul“ müssen wir hier in Ermangelung eines besseren Begriffs mit den schrecklichen Worten „emotionale Dichte“ synonym setzen, was bedeuten soll, daß der Künstler durch die außergewöhnliche Güte seines Vortrags den Hörer in einen realistisch-euphorischen Zustand versetzt, der ihm die Kraft verleiht, die gewöhnlichen Dinge des Lebens so zu sehen, wie sie ihrem Wesen nach sind, und ihm für den Alltag Mut macht, diese zu verändern.) Bernadette Hengst zog es wie sämtliche andere Salzufler Pop-Wunderkinder in das deutsche Liverpool, nach Hamburg, wo sie Deutschlands vielleicht hinreißendste, bestimmt aber meistunterschätzte Band gründete: Die Braut haut ins Auge, die sich leider nach zehn Jahren und drei gebenedeiten CDs sowie Hunderten großartigen Live-Konzerten im Jahr 2000 auflöste.

Seit 2002 hat die Neu-Berlinerin nun ihr eigenes Soloprojekt am Start, bei dem sie als Bernadette La Hengst firmiert. Damals überraschte sie das Publikum mit der CD „Der schönste Augenblick in deinem Leben“, einem Potpourri aus Synthie-Punk, Antiglobalisierungs-Agitprop und klassischem Pop, für den Madame La Hengst stets schon ein auserwählt gutes Händchen hatte. Nun erscheint mit „La Beat“ ein weiterer heterogener Genre-Mix, der sowohl musikalisch als auch inhaltlich den Faden der ersten CD weiterspinnt. Sie hätte es auch einfacher haben können und nur den Powerpop aus alten Braut-Tagen neu aufzuwärmen brauchen, denn schließlich entdecken sämtliche erfolgreichen Jung-Bands von Wir sind Helden abwärts die Musik von Die Braut haut ins Auge als musikalische Blaupause für ihre aktuellen Hits.

Auf „La Beat“ sind statt dessen Lieder versammelt, die sich im Spektrum zwischen Elektro-Boogie, HipHop, Dub, Synthi, Folk und grandiosem Pop bewegen, die mal besser, mal weniger gut (schreibt einer, der immerhin seinerzeit „Sandinista“ von den Clash für die schlechteste Platte aller Zeiten hielt!) und manchmal so gut sind wie noch nie.

Das schlichte, nur in den Kategorien von Georg Lukács’ zu begreifende Lied „Zug ohne Bremse“ ist der beste Pop-Song in deutscher Sprache seit langem. Hier wird man Zeuge einer vollkommenen Form-Inhalt-Übereinstimmung, Wort, Musik und Klang bilden hier eine organische Einheit. Erscheinung und Wesen, Äußeres und Inneres, Text und Musik fallen vollkommen ineinander. Die Musik ist wundervoll wie der Text, das Wort stimmt bis in die letzte Silbe mit der Musik überein und ist selber schon Musik, obendrein engelsgleich gesungen und klug: „Das Glück möchte allen erzählen, was im Leben passiert / Wie etwas ganz unerwartet zu Veränderungen führt / und es trägt keinerlei Absichten mit sich herum / außer daß es der Wahrheit ein Stück näher kommt / Das Glück will immer berühren / es kennt keine Angst / vor zu großen Gefühlen / und es hat keine Distanz / Solange wir selbst nicht wissen, was wir vom Glück wollen / tun wir nur das, was wir müssen / anstatt es uns zu holen / Das Glück kommt immer genau dann / wenn man noch gar nicht bereit ist /doch ich hab keine Angst vor einer neuen Zeit.“ Dieser Song ist eine fünfminütige Zusammenfassung der bisherigen Menschheit und bedeutet so etwas Ähnliches wie der ontologische Gottesbeweis für Anselm von Canterbury und das identische Subjekt-Objekt für idealistische Philosophen – mit dem kleinen Unterschied allerdings, daß es dieses Kunstwerk tatsächlich gibt. Mit diesem Lied kann man auf einem Seil über Abgründen spazierengehen. So etwa muß es klingen, wenn man im Paradies baden geht.

Daß Pop und politische Agitation im Land Konstantin Weckers tatsächlich einmal eine glückliche Verbindung eingehen können, beweisen „Her mit der Utopie“ („Ich will nicht täglich entscheiden müssen / zwischen Scheiße und Scheiße“) und der „Hartz IV“-Verlierer-Hymne „Nie mehr vor Mittag“ („Langeweile ist ein Job von acht bis vier, den niemand haben will / ein Kasten Bier nach Feierabend macht uns sicher / hält uns warm und hindert uns daran / endlich einzusehen, daß Arbeit nur unsere Zeit stiehlt und unsere Ideen“), mit der La Hengst wie ganz selbstverständlich als Linksaußen in der Ray-Davies-Liga spielt. Deshalb: Demut! Man muß einfach festhalten, daß hier ein paar Lieder für die Ewigkeit geschrieben worden sind. Zu den Konzerten ist anzuraten, angemessenes Schuhwerk in Form von mit religiöser Inbrunst geputzten Bass Weejun Kiltie Tassle Loafers anzulegen.

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